The Art of Decollage
Décollage versteht sich als ein Zufallsverfahren im öffentlichen Raum. Eine Kunst der Abtragung, der Überlagerung, der fragmentierten Enthüllung. Präsentiert als Open-Space- und Open-Source-Ausstellung – jederzeit zugänglich, jederzeit begehbar. Sie existiert im Jetzt, im Draußen, im Vorübergehen. In urban verdichteten Räumen ist sie allgegenwärtig. Kein Stromkasten, kein Glascontainer, kein Bauzaun, kein freies Stück Wand ist vor ihr sicher. Dort, wo wild plakatiert wird, wo der öffentliche Raum sich selbst überlassen bleibt, breitet sie sich aus. Manchmal als trotziges Echo auf grassierende Gentrifizierung, manchmal als bloßer Akt der Verwahrlosung, irgendwo zwischen ästhetischer Intervention und vandalistischer Geste. Décollage ist impulsiv, unkontrolliert, lebendig. Sie sprüht vor Energie, vor Wortwitz, vor Aktivismus, vor anarchischer Kombinationslust. Zwischen Werbefetzen und politischen Parolen, zwischen Popfarben und abblätterndem Kleister verhandelt sie ihre Botschaften. Antifa trifft auf Discounter-Slogans, Fridays-for-Future-Symbole überlagern Hochglanzästhetik. Der Werbekörper wird zerlegt, dekonstruiert, durchlöchert – sich selbst entfremdet, transzendiert, eingebettet in neue Kontexte, Narrative, Poesien. Ein Modelgesicht wird zerfetzt. Die Papierhaut hängt in Fetzen, normierte Schönheit wird durchlöchert, durchsetzt von grellen Farben, zerrissenen Lettern, offengelegten Bildschichten. Und plötzlich - aus all den Fragmenten sich verbindend: ein Kunstwerk. Du siehst ein Gesicht – orange-gelb überbelichtet, lilafarbene Lidschatten und Augenbrauen. Unterhalb des rechten Auges wellt sich das Papier. Wie Tränenspuren. Oder Falten. Zwei Drittel des Gesichts fehlen. Die Rückseite des abgerissenen Plakatteils hängt wie ein Lappen über der unteren Gesichtspartie. Freigelegt ein weißer Ausschnitt mit dem Wort: GALERIE. Décollage ist urbane Palimpsestkunst. Sie entsteht aus der Spannung zwischen Sichtbarkeit und Verschwinden. Zwischen Fläche und Riss, zwischen Verwundbarkeit und Transformation. Aus diesem Wechselspiel tritt sie hervor, als Spielgefährtin des Zufalls, in permanenter Schwebe, in Auflösung von Repräsentation. Letztlich handelt es sich um das, was Hans Blumenberg "die Reserve des Unsichtbaren" nennt.